Wer sind Disrupteure

Welche Macht-
instrumente hat ein Disrupteur?

„Opportunisten sind
Spezialisten im Umgang mit
wechselnden Windrichtungen.“

(Tom Renzie)

Wie setzen sich Disrupteure durch? Wie gelingt es ihnen, von ihrer Organisation, ihrem Unternehmen mit ihren Ideen wahrgenommen zu werden? Welche Einfluss- und Interventionsmöglichkeiten haben sie? Es geht also um die Machtinstrumente derjenigen, die formal keine Macht haben. Die ihre Interventionen mit Geschick und Finesse informell an die Entscheider adressieren müssen, um so die Chance für eine Umsetzung oder wenigsten für ein Nachdenken zu ihren Überzeugungen zu erhalten.

Auch wenn die Seniorität in den letzten Jahren leider etwas in Verruf geraten ist (da sie oftmals mit älteren, weißen und männlichen Personen assoziiert wird, die von einer diversifizierten Gesellschaft für die negativen Entwicklungen in der Welt verantwortlich gemacht werden), steht sie im ursprünglichen Wortsinn für eine grundlegende Mischung aus Expertise und Haltung, aus Cleverness und Gelassenheit, aus Erfahrung und der Fähigkeit, die Zusammenhänge zu erkennen, aus umfassendem Wissen und profundem Können. Ein Senior kennt sich aus und bedient sich eines weitreichenden Netzwerkes. Sie oder er verfügt über hohe methodische und soziale Kompetenzen, die sie oder ihn auch neue fachliche Aufgabenstellungen erfolgreich bewältigen lassen. Sie oder er kann intuitiv den richtigen Weg zur Problemlösung finden und hat die Beharrlichkeit, diesen Weg bis zum erfolgreichen Ende zu folgen. So gesehen hat das Wort des Seniors Gewicht. Man bittet ihn um seine Meinung, hört ihn und ist bereit, seiner Expertise zu folgen. Und weiß gleichzeitig, dass es dem Senior nicht mehr um Macht, Geltung oder Boni geht. 

Eine solche Unabhängigkeit macht frei. Frei von Konventionen, von sozial erwünschten Meinungsbeiträgen und finanziellen Restriktionen. Das ist sowohl dem Disrupteur, der den Status als Senior erreicht hat, als auch seinen Führungskräften bewusst. Letztere, kluges Führungshandeln vorausgesetzt, scheuen aus diesem Grund die offene Konfrontation und verlegen einen möglichen Disput in vorgelagerte Abstimmungsgespräche. Diese dienen dem Senior dazu seinen Einfluss geltend zu machen. In diesen Gesprächen kann er den Führungskräften die Konsequenzen ihrer potenziellen Entscheidungen verdeutlichen, Handlungsoptionen vorschlagen und mit ihnen Alternativen erarbeiten. Die Führungskraft weiß, dass sie ohne die Zustimmung des Seniors und gegen seinen Willen ihre Entscheidungen kaum umsetzen kann. Im Gegenzug weiß der Disrupteur mit Senioritätsstatus das ihm entgegengebrachte Vertrauen wertzuschätzen und vermeidet die Diskreditierung der Führung gegenüber den Kollegen. So können Lösungen entstehen, die gleichberechtigt die Interessen des Unternehmens, der Führung und der Mitarbeiter berücksichtigen.

Der Weg zum Wert erfolgt über die Wertschöpfung. Dem Prozess, in dem das Produkt erschaffen, die Dienstleistung erbracht wird. Der Disrupteur ist sich dessen bewusst. Er weiß, dass die Anerkennung seiner Arbeit auf Wertschöpfung beruht. Also aus dem Schaffen eines konkreten Nutzens für seine Kunden, für den diese bereit sind, Geld zu zahlen. Er möchte nicht für die Protokollierung von Verstößen gegen die Arbeitssicherheitsverordnung, für das Entwerfen fiktiver Prozesse in Vorbereitung eines Qualitätsaudits oder für das Aufdecken potenzieller Missbrauchsrisiken in den aktuell geltenden Compliance-Regeln bezahlt werden. Das ist er sich nicht wert. Also ignoriert er all das Gedöns der bürokratischen Regulierung und konzentriert sich anhand von vier einfachen Fragen auf seine Arbeit:

  • Wer ist der Kunde Deiner Arbeit?
  • Welchen Nutzen erbringst Du für Deinen Kunden?
  • Wie kann man diesen Nutzen messen?
  • Wie lässt sich der Nutzen verbessern?

Diese Wertorientierung stärkt den Disrupteur im Unternehmen. Sie ist sein Machtinstrument gegenüber den Vorständen und Managern des Unternehmens. Denn wer von denen, die sich noch halbwegs klar über den Unternehmenszweck sind, möchte einen der wenigen Menschen im Unternehmen sanktionieren oder gar eliminieren, die einen erheblichen Anteil an dessen Wertschöpfung haben? Mit Compliance-Richtlinien, Umweltzertifikaten und perfekten Datenschutzstandards lässt sich zwar das Unternehmen sichern, dessen Existenz ist aber unlösbar an die erwirtschafteten Umsätze gebunden.

Mit der Person des Narren werden häufig zwei Bedeutungen assoziiert: Zum einen die als Tölpel, Depp oder Dummkopf, der nicht in der Lage ist, den Regeln des Zusammenlebens zu folgen. Zum anderen die des Spaßmachers, Clowns oder Kaspers, der auf lustige und selten anstößige Weise für die Unterhaltung seines Publikums sorgt. Allerdings ist der Narr tatsächlich niemals so dröge oder drollig, wie es ihm die Assoziationen zuschreiben. Viel eher ist es seine Tarnung, unter deren Schutz er eine grundlegende Kritik der aktuellen Situation transportiert. Zudem geht es dem Narren nicht darum, die Schwachen und Machtlosen mit Spott und Häme zu überziehen. Stattdessen fokussiert er sich auf die Mächtigen, die in ihrer Borniertheit ihre Sichtweise so weit einschränkten, dass sie bestimmte Probleme überhaupt nicht mehr wahrnehmen. Der Narr ist somit ihr Antipode. Ihn gibt es nur deswegen, da es die scheinbar unfehlbare Macht gibt. 

Kluge Herrscher der Vergangenheit wussten das für sich zu nutzen. Ihnen waren ihre Fehlbarkeit, ihre eingeschränkte Sichtweise und die filternde Eigenschaft der klassischen Hierarchie bewusst. Deshalb etablierten sie als Korrektiv den Hofnarren, dessen Aufgabe darin bestand, ihnen die Wahrheit des Volkes entgegen allen hierarchischen Grenzen nahezubringen.

Nun sind die Zeiten der klassischen Herrscherhöfe Vergangenheit. Damit scheint auch der Hofnarr obsolet. Wenn Demokratie im Sinne des Begriffes funktioniert, wird die Stimme des Volkes in ausreichendem Maße gehört und es braucht keinen Narren, der sie in einer verbrämten Legende dem Herrscher genießbar vorträgt. Allerdings zeigt die Praxis der Unternehmen, dass es genau an dieser demokratischen Meinungsbildung oftmals fehlt. Manager treffen bewusst oder unbewusst Entscheidungen auf der Grundlage von Informationen, die ihnen vorweg von ihrer eigenen Hierarchie gefiltert wurden. Wohlgemerkt von einer Hierarchie, die sie selbst geschaffen haben und bei deren Auswahl vor allem auf Konformität achteten. Die Hierarchie wiederum kennt die Vorlieben ihres Chefs. Sie weiß, was dieser wann hören mag und was eher nicht. Sie hat ein Gefühl dafür entwickelt, was zu dem System des Chefs passen könnte und was eher nicht. Und folgt diesen Annahmen, da sie an ihrem eigenen Erhalt interessiert ist. Wir müssen dementsprechend davon ausgehen, dass viele Manager sich so nicht oder nur eingeschränkt über die Folgen und Nebenfolgen ihrer Entscheidungen bewusst sind. Ja, dass sie selten wissen, was sie da eigentlich tun. 

Das macht den Narren als Überbringer unbequemer Nachrichten auch für die heutige Zeit interessant. Vielleicht in der Neuzeit nicht unbedingt in der Position des Narren. Welcher Manager möchte eingestehen, sich einen Narren zu halten? Und dennoch gibt es inzwischen einige Manager, die sich den Nachteilen ihrer Rolle bewusstwerden. Also heißen die Narren der Gegenwart Coach, Berater oder eben auch Disrupteur.

Das bringt Letzteren in eine interessante Position. Denn er ist der Ver-rückte, der, der die Dinge anders sieht. Der den Samen des Genies in sich trägt und der in der Lage ist, Dinge vom Kopf auf die Füße zu stellen. Seine Narreteien münden nicht in Bänkelgesänge oder Possen. Stattdessen brilliert er mit neuen verblüffenden Ansichten. Egal, ob sie Produkte, Prozesse oder Geschäftsmodelle betreffen. Er kann die Dinge anders denken. Und er kann sie zugleich seinem Management in einer eher beiläufigen Art schmackhaft machen. Die Instrumente dafür findet er in der paradoxen Intervention.

Die Frage ist ein subtiles und gleichzeitig mächtiges Instrument der Intervention. Subtil daher, da sie die klassischen Strukturen akzeptiert und aus der Position des Untergebenen an den Vorgesetzten gerichtet wird. Der Disrupteur folgt damit seiner scheinbar untergeordneten Rolle und begehrt lediglich Antwort. Also eine Entscheidung. Der Vorgesetzte ist aufgefordert sich zu erklären. Mittels Bestätigung oder Ablehnung. Auf jeden Fall aber damit, sich zu dem Fragegegenstand zu positionieren. Das macht die Frage zugleich so mächtig. Denn jede Frage verlangt eine Antwort. Und keine Antwort ist auch eine Antwort. Eine Frage lässt sich eben nicht nicht beantworten. Höchstens überhören, wenn sie nicht laut genug gestellt wird. Dann ist es an dem Fragesteller, dies zu ändern. Vielleicht durch eine geänderte Intonation oder durch eine Umformulierung. Indem ein anderer Kontext gewählt oder sie vor Dritten ausgesprochen wird. Es liegt ganz am Fragenden, also dem Disrupteur. Er zwingt aus seiner untergeordneten Position den Befragten, sich zu positionieren. Dabei formuliert der Disrupteur seine Zweifel und gegensätzlichen Positionen nicht als ablehnende Aussage, sondern als Option. Dem Chef eröffnen sich daraufhin Optionen. Er könnte erstens die Frage ignorieren.

Doch wie bereits erwähnt, Fragen lassen sich nicht nicht beantworten. Also wäre keine Antwort gleichzusetzen mit der Aussage, dass er darüber noch nicht nachgedacht hat. Oder, dass die Antwort so unangenehm ist, dass er sie nicht aussprechen möchte. Zugleich muss er im Falle des Scheiterns anerkennen, dass der Fragesteller den Misserfolg bereits ahnte. Antwortet er dagegen, benötigt er Argumente. Wohlgemerkt sachliche, denn mit unsachlichen würde er sich diskreditieren. Also ist der Chef gezwungen, die Folgen und Nebenfolgen seiner Entscheidungen zu überdenken. Und hat zudem die Chance zur Korrektur, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Denn noch immer sind es seine Überlegungen. Der Disrupteur gab nur den Anstoß dazu.

Disziplinarstrafen wie Rüge und Verweis, Abmahnung oder gar fristlose Kündigung beruhen auf dem Prinzip der Macht. Der Mächtige erteilt dem Untergebenen Anweisungen, die dieser auszuführen hat. Werden diese fahrlässig oder bewusst nicht bzw. nicht in der gebotenen Qualität ausgeführt, behält sich der Mächtige das Recht der Sanktion vor. So, wie er gutes Verhalten belohnt, nimmt er sich das Recht heraus, schlechtes Verhalten zu bestrafen. Mit diesem System sind wir aufgewachsen, es ist uns seit frühester Jugend bewusst. Unsere Eltern straften uns mit Fernsehverbot, Stubenarrest oder vielleicht gar mit einer Schelle. In der Schule wurden wir mit Einträgen, Tadeln oder gar Verweisen konfrontiert. Beim Militär hatten wir Zusatzarbeiten, Ausgangssperren oder Arrest zu ertragen. Und das System lebt in uns fort. So wie wir behandelt wurden, behandeln wir andere, wenn wir in eine entsprechende Position kommen. Vielleicht nicht in der Strenge und vielleicht auch mit anderen Arten von Strafen. Aber das Prinzip gilt noch immer. Der Mächtige bestraft den seiner Macht Unterworfenen.

Was jedoch, wenn sich das Prinzip umkehrt? Wenn die Macht des Mächtigen erodiert und der Unterworfene gar nicht mehr so ohnmächtig ist, wie es scheinen mag? Eben wie im Falle des Disrupteurs, dessen Vorsprung im Wissen und in den Erfahrungen, in seiner Kreativität und in seiner Intuition das klassische Machtverhältnis aushebelt. Zwar mag dessen Chef noch der formal Mächtige sein, doch die informelle Macht ist in diesem Fall längst auf den Disrupteur übergegangen. So verlieren nicht nur die erwähnten Formen der Sanktionen ihre Bedeutung (Wer will schon einem Mitarbeiter mit Kündigung drohen, wenn dieser innerhalb kürzester Zeit einen neuen Vertrag bei einem anderen Unternehmen erhalten könnte?), sie schwenken ebenso in ihrer Anwendbarkeit auf den Disrupteur. Jetzt kann er seinen Chef sanktionieren. Beispielsweise in Form seiner Kündigung, das ist wohl die bekannteste und am häufigsten genutzte Form. Aber auch eine Abmahnung gegenüber dem Vorgesetzten ist denkbar. Er ist nur vorgesetzt, der Name verdeutlicht es. Wer sagt, dass er auf immer dort sitzen muss? Also wird der Disrupteur ihm oder ihr sagen, dass er mit seinen/ihren Umgangsformen, Entscheidungen und Handlungsweisen nicht einverstanden ist. Und dass er im Wiederholungsfall entsprechende Sanktionen ergreifen wird.