Das Jahr 2024 war reich an Illusionen. Eine der Fiktionen war dabei die des markanten Unterkiefers. Hunderttausende von jungen Männern sollen sich an der Therapie des sogenannten Mewings probiert haben. Jenes Mewing, benannt nach den beiden britischen Kiefernorthopäden Mike und John Mew, beschreibt ein Zungentraining, bei dem durch wiederholtes Schlucken ein Vakuum im Mund entsteht und daraufhin die Zunge flach am Gaumen zu liegen kommt. Wiederholte und intensive Übung vorausgesetzt, soll sich daraufhin ein markanter Unterkiefer ausprägen, der das männliches Schönheitsideal bedient. Zudem, so erhoffen sich die Novizen, würde ein solches Kinn Führungsstärke, Entschlossenheit und gedankliche Klarheit assoziieren. Eben das, was man benötigt, um eines Tages als diverser Jung-Unterkiefer einen der weißen Alt-Unterkiefer abzulösen.
Letztere zeigten jedoch in 2024, dass auch markante untere Gesichtspartien wie Fähnchen im Wind flattern können. Kanzlerkandidaten-Unterkiefer versprechen inzwischen dem Wahlvolk all das, was sie wenige Wochen zuvor als Regierungsvertreter-Unterkiefer noch vehement ablehnten. Manager-Unterkiefer, die in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten die Freiheit der Märkte preisen, flehen angesichts der aktuellen Rezession um Aufnahme unter dem Rock des Wirtschaftsministeriums. Und vormalige Pazifisten-Unterkiefer zurren den Gurt des Stahlhelms unterm Kinn: Endlich einmal im Panzer gegen Osten ziehen.
Vielleicht sollten wir im kommenden Jahr dem Trend des Mewing den des Braining entgegensetzen. Denken statt Schlucken, Reflektieren statt Saugen und Antizipieren statt Kauen. So dass sich bei jedem von uns, der diesen Übungen folgt, ein markantes Hirn entwickelt. In dem Fall hätte ich Hoffnung für das Jahr 2025.