Wird in einem Seminar über Fehlerkultur gesprochen, erzählen Trainer gern folgende Anekdote: Durch den individuellen Fehler eines Mitarbeiters erleidet ein Unternehmen einen Verlust von mehreren Millionen. Der Eigner des Unternehmens bestellt den jungen Mann ein und spart während des Rapports nicht mit Vorwürfen. Zum Schluss gibt er ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme. Der ist sich seiner Schuld vollständig bewusst und bittet um seine Entlassung. Worauf der Eigner ihm verwundert entgegnet, warum er dies tun solle. Immerhin habe er grade mehrere Millionen in die Ausbildung des jungen Mitarbeiters investiert.

Diese Anekdote wird wahlweise Bosch, Daimler oder Siemens zugeschrieben. Auch die Höhe des Betrags und die Einheit der Währung variiert von Erzähler zu Erzähler. Alle drei Aspekte sind aber für die Quintessenz unbedeutend. Denn die eigentliche Botschaft besteht im Schlusssatz. Dort, wo gearbeitet wird, entstehen immer auch Fehler. Die ethische Größe eines Unternehmens besteht nun darin, wie es diese Fehler akzeptiert und seine Mitarbeiter, statt sie zu sanktionieren, anhält aus diesen zu lernen.

Letzte Woche wurde mein guter Freund, Kollege und phasenweise auch Chef entlassen. Ihm wurde eine Unterschrift zum Verhängnis, die er unbedacht unter ein Dokument setzte. Seine Kündigung erfolgte nach mehr als dreißig Jahren engagierter und kreativer Arbeit. Ohne seinen Enthusiasmus, sein Geschick und seine Fähigkeit zur Vernetzung hätte es den Geschäftsbereich, in dem wir beide tätig waren, schon lange nicht mehr gegeben. Durch ihn und seine Bereitschaft unkonventionelle Wege zu gehen, gelang es völlig neue Themen zu erschließen und daraus attraktive Angebote zu gestalten. Das geschah nicht ohne Stress und Hektik. So manche Unterschrift setzte er unbedacht unter Dokumente. Bis zu der oben erwähnten, deren maximaler Schaden im mittleren fünfstelligen Bereich liegt. Diesen potenziellen Verlust schätzte die Compliance Abteilung als so schwerwiegend, dass sie die Entlassung meines Freundes empfahl. Und die Geschäftsführung folgte dieser Empfehlung.

Ich gebe zu, ich habe die eingangs erwähnte Anekdote in meinen Seminaren selbst mehrmals erzählt. In Zukunft werde ich es allerdings nicht mehr tun. Denn ich habe gelernt, dass solche Geschichtchen nichts anderes als eine Fiktion des Managements darstellen. Märchen, die man den Managementnovizen gern am abendlichen Kaminfeuer erzählt. Die Realität ist jedoch eine andere.