Es heißt, wir Menschen lügen etwa 200-mal am Tag. Und bereits das scheint eine Lüge. Denn keiner kann so recht benennen, woher diese Aussage kommt. Dennoch schafft die Zahl Aufmerksamkeit und hat damit ihren Zweck erreicht. Etwa so, als wenn der Verkäufer die Reichweite seines Elektroboliden mit mehr als 700 km pro Batteriefüllung angibt. Die Bedingungen dafür finden sich dann im Kleingedruckten: Nicht schneller als 60 km/h, Reifen durch Luftkissen ersetzt und Karosserie mit Gleitwachs überzogen.

Doch unabhängig davon, ob wir den 200 Lügen pro Tag nun glauben oder nicht glauben wollen, der größte Teil unseres Lügenbudgets ist der täglichen Arbeit vorbehalten. Der Einkäufer fantasiert gegenüber dem Lieferanten über exorbitante Bedarfsmengen und das Marketing malt bunte Prospekte ohne je deren Inhalt zu verstehen. Der Qualitätsmanager irrt mit den Auditoren durch potemkinsche Dörfer und der Berufsgenossenschaft werden blaue Pferde ins Programm gebastelt. Die Entwicklung nutzt agile Methoden für niemals erreichbare Projektziele und der Vorstand quirlt Zahlen und Ziele zu einem ergebnisoptimierten Brei.

Das ist vielfach unser berufliches Leben. Wir haben uns eingerichtet, erzählen den anderen einen Schwank. Wohl wissend, dass dessen Hintergrund aus Annahmen, Ritualen und Deutungen gebastelt wurde. Manche finden das gut und andere nicht. Doch wäre Ehrlichkeit tatsächlich die Alternative? Wollen wir uns wirklich eingestehen, dass unsere Zusammenarbeit aus Grabenkämpfen besteht? Dass unsere Digitalisierung nur deshalb geringfügig über der der Gesundheitsämter liegt, da unsere Faxgeräte eher kaputt gingen? Dass von unseren Unternehmensvisionen kaum mehr bleibt als höherer Umsatz zu geringeren Kosten?

Nein, ich glaube nicht, dass wir das wollen. Es würde unsere Balance stören, unsere Harmonie und unsere Annahme des ehrlichen Miteinander. Mit Blick auf die Vergangenheit schrieb Voltaire, Geschichte sei die Lüge, auf die man sich verständigt habe. Dementsprechend besteht unsere Gegenwart aus Lügen, in deren Hülle wir uns wohlig kuscheln. Es sei denn, die Realität kommt uns dazwischen. Aber die lässt sich ja immer noch verleugnen.